Aussätzige und Gemiedende im mittelalterlichen Europa: Unehrliche, Bettler, Vaganten und mehr
Das Mittelalter war eine Zeit der sozialen Schichtung und Ausgrenzung. Neben den drei Ständen - Klerus, Adel und Bauern - existierten verschiedene Randgruppen, die am Rande der Gesellschaft lebten und oft marginalisiert oder unterdrückt wurden.
Key Takeaways:
- Randgruppen im Mittelalter waren vielfältig und wurden aufgrund von Herkunft, Glauben, Beruf oder Lebensweise ausgegrenzt.
- Unehrliche Berufe wie Henker, Abdecker und Prostituierte galten als unrein und wurden gesellschaftlich geächtet.
- Bettler waren allgegenwärtig und wurden zunächst geduldet, später jedoch zunehmend kontrolliert und vertrieben.
- Juden lebten seit der Spätantike in Europa, wurden aber immer wieder Opfer von Pogromen und Verschwörungstheorien.
- Vaganten, fahrendes Volk und religiöse Randgruppen prägten das Bild der mittelalterlichen Gesellschaft.
Unehrliche Berufe: Geächtete am Rande der Gesellschaft
Im Spätmittelalter, als sich die Städte und Zünfte entwickelten, galten bestimmte Berufe als unehrlich. Dazu gehörten Henker, Abdecker, Totengräber und Prostituierte. Sie waren von den Zünften ausgeschlossen und durften nicht an gesellschaftlichen Zusammenkünften teilnehmen. Ihre Kinder hatten oft keine Chance, in andere Berufe aufzusteigen.
Unehrliche Berufe waren meist mit Tätigkeiten verbunden, die als unrein galten, wie die Verarbeitung von Leichen, Tierabfällen oder Fäkalien. Auch Müller und Leinweber konnten in manchen Städten als unehrlich gelten, während sie andernorts akzeptiert wurden. Die Ausgrenzung verschärfte sich im Laufe des Mittelalters, sodass Unehrliche teilweise nicht einmal mehr am selben Tisch sitzen durften wie andere Menschen.
Bettler: Zwischen Almosen und Ausgrenzung
Bettler waren im Mittelalter allgegenwärtig und zunächst geduldet. Das Geben von Almosen galt als wichtiger Akt der Nächstenliebe und Seelenheiligung. Klöster und Kirchen verteilten regelmäßig Essen und Unterstützung an Bedürftige. Doch mit dem Aufkommen der Städte änderte sich die Einstellung gegenüber Bettlern.
Im Spätmittelalter versuchten Städte zunehmend, die Bettler zu kontrollieren und ihre Zahl zu reduzieren. Es wurden Bettelverordnungen erlassen, die zwischen "echten" und "falschen" Bettlern unterschieden. Nur wer eine Bettelmarke besaß, durfte noch betteln und erhielt Unterstützung. Bettler ohne Marke wurden vertrieben oder in Bettlerhäusern außerhalb der Stadt untergebracht.
Juden: Zwischen Schutz und Verfolgung
Juden lebten seit der Spätantike in Europa und standen zunächst unter dem Schutz von Bischöfen und Kaisern. Doch mit den Kreuzzügen begann eine Zeit der Verfolgung und Ausgrenzung. Jüdische Gemeinden wurden Opfer von Pogromen, da man sie für den Tod Jesu verantwortlich machte. Auch während der Pestepidemien wurden Juden oft zu Sündenböcken erklärt und der Brunnenvergiftung beschuldigt.
Im Spätmittelalter kam es zu Vertreibungen und Zwangsansiedlungen in Ghettos. Juden mussten spezielle Kleidung tragen, wie den spitzen Judenhut, um sie als Randgruppe zu kennzeichnen. Trotz Verfolgung und Ausgrenzung blieben jüdische Gemeinden bestehen und bewahrten ihre religiösen und kulturellen Traditionen.
Vaganten und fahrendes Volk: Unterwegs im Mittelalter
Vaganten waren umherziehende Studenten und Kleriker, die oft zwischen Universitäten wechselten oder nach Abschluss ihres Studiums keine Anstellung fanden. Sie zogen singend und dichtend durch die Lande und hinterließen Werke wie die "Carmina Burana". Ihr freier Lebensstil inspirierte später Jugendbewegungen wie die Wandervögel.
Zum fahrenden Volk gehörten Gaukler, Spielleute, Hausierer und Handwerker, die von Ort zu Ort zogen, um ihre Dienste anzubieten. Anders als oft angenommen, bildeten sie keine homogene Gruppe und waren nicht völlig von der Gesellschaft ausgeschlossen. Sie hatten Verbindungen untereinander und zu sesshaften Menschen.
Religiöse Randgruppen: Ketzer, Einsiedler und Beginen
Auch innerhalb der Kirche gab es Randgruppen, die sich bewusst von der Welt abwandten oder in Konflikt mit der offiziellen Lehre gerieten. Einsiedler und kleine religiöse Gemeinschaften lebten in Armut und Askese abseits der Gesellschaft. Bettelorden wie Franziskaner und Dominikaner entstanden aus dem Ideal der Besitzlosigkeit, wurden aber später selbst zu mächtigen Institutionen.
Ketzerische Gruppen wie Katharer und Waldenser lehnten die Macht der Kirche ab und strebten nach einem einfachen Leben in Armut. Sie wurden von der Inquisition verfolgt und als Häretiker verurteilt. Beginen und Begarden waren religiöse Laienbewegungen, die in Häusern und Gemeinschaften zusammenlebten. Besonders für Frauen boten sie eine Alternative zum Eheleben und eine Möglichkeit zu Bildung und Selbstbestimmung.
Fazit: Randgruppen als Spiegel der Gesellschaft
Randgruppen im Mittelalter waren vielfältig und spiegelten die sozialen, religiösen und wirtschaftlichen Spannungen ihrer Zeit wider. Ihre Existenz und Behandlung sagt viel über die Werte und Ängste der mittelalterlichen Gesellschaft aus. Mit dem Aufkommen der Städte und der Entstehung neuer sozialer Schichten veränderte sich auch die Wahrnehmung und Ausgrenzung von Randgruppen.
Heute ermöglicht die Beschäftigung mit mittelalterlichen Randgruppen einen differenzierten Blick auf diese faszinierende Epoche. Sie zeigt, dass Geschichte nicht nur von Herrschern und Eliten, sondern auch von den Menschen am Rande der Gesellschaft geschrieben wurde. Ihre Geschichten und Schicksale sind es wert, erzählt und erinnert zu werden.